Anarchistin, Sozialdemokratin und Franziskanerin 

Veröffentlicht am 20.10.2023 in OV-Zeitung

Fanny Imle – Eine Ungewöhnliche Frau aus Ellwangen 

 

Beate Rothmaier

 

An einem warmen Abend im Sommer 1900 schwimmt eine junge Frau bis in die Mitte des Zürichsees hinaus. Sie ist hochschwanger und fast blind. Es ist die 1878 in Ellwangen geborene Offizierstochter Fanny Imle, die seit einem Semester an der Universität Zürich Philosophie studiert. Wissbegierig und politisch wach engagiert sie sich in der lebendigen europaweit vernetzten Bewegung der Anarchisten. Da stellt sie fest, dass sie schwanger ist.

 

„Der Vater des Kindes ‘achte sie hoch’, käme aber über ihre Augen nicht hinweg…“, notiert Josepha Kraigher-Porges eine Zeitzeugin in ihrem Tagebuch. So wird Fanny Imle alleinerziehende Mutter, was sie nicht davon abhält, vier Jahre später in Freiburg als eine der ersten Frauen ihren Doktortitel in Politikwissenschaft mit einer Arbeit über die frühen Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu erwerben.

Das einzige Foto, das es von ihr gibt, zeigt sie mit kurz geschnittenem Haar und einem kleinen Schwangerschaftsbäuchlein, neben sich ihr Führhündchen. „Frisch, schön, unter feinem Blondhaar strahlende Augen, die wie dunkle, unruhig irrende Quellen zwischen festen Ufern aussahen. Diese Zweiundzwanzigjährige war vollständig blind, hatte aber einen phänomenalen Orientierungssinn und starken Lebenswillen. Sie war den ganzen Abend intensiv und begeistert an ihre sozialen Ideale hingegeben und verweilte keine Sekunde bei sich. Nur von ihrem zwei Monate alten Bübchen sprach sie lächelnd einige Minuten.“ So beschreibt Kraigher-Porges sie, nachdem sie ihr begegnet ist.

 

Mit ihrer Arbeit Der Bleibergbau in Mechernich 1909 verfasst Fanny Imle eine der ersten wegweisenden Studien der Sozialwissenschaften. Die 31-jährige verlässt die Theorie und erarbeitet Fragebögen, mit denen sie bei den Bergarbeitern deren miserable Arbeitsbedingungen erhebt und auswertet.

Leider sind ihre persönlichen Aufzeichnungen verschollen; so wissen wir nicht, was sie kurz darauf bewogen hat, sich der Religion zuzuwenden und dem Franziskanerorden beizutreten.

Was sie macht, macht sie ganz und gar. Dr. rer. pol. Imle wird jetzt zu einer der ersten Laientheologinnen weltweit, verfasst eine Biografie über Franz von Assisi und übersetzt gemeinsam mit einem Franziskanerpater das Breviloquium des Bonaventura aus dem Latein. 1933 stirbt ihre Mutter, die sie wohl ihr Leben lang mit dem Kind und im Alltag unterstützt hat. Auch muss Fanny Imle immer ein Netzwerk von Kolleginnen und Freunden, darunter die Sozialistin Lu Märten, gehabt haben, die ihr vorgelesen und für sie getippt haben, bis Imle selbst Blindenschrift und Maschinenschreiben gelernt hatte. Während der NSZeit fehlen Fanny Imle die Publikationsmöglichkeiten, ihre Schriften gelten als „nicht kriegswichtig“. 1942 fällt ihr einziger Sohn Walter in Russland. Fanny Imle veröffentlicht nur noch sporadisch und stirbt 1965 im Alter von 87 Jahren im westfälischen Niedermarsberg.

Fanny Imle hat nicht nur eine noch heute anerkannte frühe, sehr qualifizierte Studie der Sozialforschung verfasst. Sie war ein politischer Kopf, ein hellwacher Geist und eine moderne Frau, ihrer Zeit voraus. Auch von ihren infolge einer angeborenen Behinderung erblindeten Augen ließ sie sich nicht von einem Leben voller Tatkraft und intellektueller Arbeit abhalten. Bis heute gibt es keine vollständige Bibliografie ihrer Schriften und Vorträge, geschweige denn Forschung über deren Wirkung.

 

„Gruß den Frauen, sie flechten und weben, himmlische Werte ins politische Leben“, Fanny Imle (Schiller leicht variierend). Buchcover von Fanny Imles Einführung in das Staats- und Wirtschaftsleben für Frauen und Jungfrauen von 1920.