Bewegte Zeiten

Veröffentlicht am 20.10.2023 in OV-Zeitung

Vor fünfzig Jahren besuchte Willy Brandt Ellwangen

 

Alfred Geisel

 

Eines der wichtigsten Ereignisse für das politische Ellwangen war der Besuch Willy Brandts 1973. Der ehemalige Richter am Landgericht und Landtagsvizepräsident Dr. Alfred Geisel, der sich selbst einen »Altgedienten« nennt, hält seine Erinnerungen an die damaligen Ereignisse und an sein langjähriges Engagement für die Sozialdemokratie in diesem Beitrag fest.

 

  

Als ich im Herbst 1965 nach der damals für die SPD verlorenen Bundestagswahl meinen reiflich überlegten Entscheid, Mitglied der ältesten demokratischen Partei Deutschlands zu werden, endlich verwirklichte, in Teilen der Ellwanger Bürgerschaft Unverständnis und erkennbare Ablehnung aus. Dass ein  wohlbestallter, promovierter Richter des Landgerichts in der CDU-geprägten Stadt in die SPD eintrat, rief bei vielen Kopfschütteln hervor. Etliche Bekannte und Freunde mieden zunächst den Umgang mit mir und meiner Familie, und auch im Richterkollegium stieß ich teilweise auf schroffe Ablehnung, wollte man doch mit dem Mitglied einer wörtlich »halbkommunistischen Organisation« nichts zu tun haben. Auch im Gemeinderat der Stadt, in den ich 1968 mit einem weiteren Genossen gewählt wurde, begegnete man uns seitens der CDU, die damals über 75 Prozent der Sitze innehatte, mit kühler Ablehnung. Eine rühmliche Ausnahme machte der damalige Oberbürgermeister Karl Wöhr – ein rechtschaffener, in der Wolle gefärbter Unionspolitiker. Er begegnete unseren  kommunalpolitischen Anliegen offen und fair und band uns bei den Eingemeindungsverhandlungen im Rahmen der Kommunalreform zu Beginn der 70er Jahre voll mit ein. Als die SPD in Bund und Land Ende der 60er Jahre die Regierungsverantwortung übernahm, lockerte die ablehnende Stimmung sich etwas auf. Diese positive Entwicklung erlitt jedoch nach dem grandiosen Wahlsieg der SPD bei der Bundestagswahl 1972 mit Willy Brandt als Kanzler einer sozialliberalen Koalition einen herben Rückschlag. Alte parteipolitische Gegensätze brachen in weit schärferer Form wieder auf.

 

Ein »Vaterlandsverräter« besucht Ellwangen

 

 

Was dies für Ellwangen bedeutete, zeigte sich deutlich bei Willy Brandts Besuch am 24. Juni 1973 in unserer Stadt und kann auch 50 Jahre später nur als unfassbar bezeichnet werden. Der Besuch fand an einem strahlend sonnigen Sonntag statt und sollte für die ostwürttembergische SPD zu einem mutmachenden politischen Höhepunkt, für das Ansehen Ellwangens jedoch zu einem Desaster werden. Willy Brandt hatte sich angesagt, weil er an diesem Tag die vorbildliche soziale Einrichtung des Kinderdorfs Marienpflege kennenlernen wollte – ein Wunsch, der von Oberbürgermeister Karl Wöhr und den Verantwortlichen des Kinderdorfes wärmstens begrüßt wurde.

Als der Bundeskanzler nach seiner Ankunft von einem kleinen Podium auf dem Bahnhofsvorplatz aus ein kurzes Grußwort an die Ellwanger Bevölkerung richten wollte, erwartete ihn eine mehrtausendköpfige Menge teilweise mit lebhaftem Beifall. Die Mehrzahl der Anwesenden jedoch empfing den Kanzler mit einem gellenden Trillerpfeifenkonzert, beleidigenden Zurufen und verunglimpfenden Transparenten, die offensichtlich das Ziel hatten, ihn am Reden zu hindern. Initiatoren dieses makabren Schauspiels waren Vertreter der regionalen CDU und der Jungen Union, die von weither nach Ellwangen gekommen waren. In die Wege geleitet und orchestriert wurde die Demonstration maßgebend von Eugen Volz, dem hiesigen Landtagsabgeordneten. 

 

»Politische Wirrköpfe gibt es überall«

 

Mit Megaphonen wurde der Bundeskanzler als »Vaterlandsverräter« und unter Anspielung auf die damalige Liberalisierung des Abtreibungsrechts sogar als »Mörder« verunglimpft. Unvergessen bleibt mir der Schrecken und das Entsetzen im Gesicht von Oberbürgermeister Wöhr, der Willy Brandt immer wieder um Verzeihung für das unwürdige Schauspiel dieser fanatisierten Menge bat. Brandt nahm dieses allen demokratischen Gepflogenheiten Hohn sprechende Spektakel mit stoischer Gelassenheit hin und suchte Wöhr mit der Bemerkung »politische Wirrköpfe gibt es überall« zu beruhigen. Auch bei der anschließenden Fahrt vom Bahnhof zur Marienpflege in der Dalkinger Straße und während des rund anderthalbstündigen Aufenthaltes des Bundeskanzlers im Kinderdorf wurde dieses aufrührerische Verhalten der angestachelten Menge fortgesetzt. Es stand in krassem Widerspruch zu dem würdevollen Empfang von Direktor Erwin Knam und der Ordensschwestern, die den Gast mit der dort geleisteten Arbeit und den verschiedenen Einrichtungen des Kinderdorfes mit seiner preisgekrönten Architektur vertraut machten. Willy Brandt seinerseits drückte in bewegten Worten seine Anerkennung und seinen Dank für die großartige und verdienstvolle caritative Arbeit aus. 

Die beschämenden Begleiterscheinungen des Brandt-Besuches nahmen verständlicherweise in der Berichterstattung der örtlichen und überörtlichen Medien einen breiten Raum ein. Mit »Rüpeleien« betitelte die Schwäbische Post etwa ihren Kommentar und bezeichnete das Verhalten der Jungen Union als blanken Hass, das mit einer Demonstration gegen einen politisch Andersdenkenden nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun gehabt habe. Ähnlich bewerteten der Rundfunk, das Fernsehen und verschiedene überregionale Presseorgane dieses beschämende Spektakel und ließen so Ellwangen in einem Licht erscheinen, das so gar nicht zu dem von König Friedrich einst verliehenen Titel »Unsere gute Stadt« passte, als die Ellwangen sich seit 1811 rühmen durfte.

 

Vernünftige Kooperation statt verletzender Konfrontation

 

Dieser wahre Schandfleck politischer Kultur darf nicht der Vergessenheit anheimfallen. Glücklicherweise hat sich der Umgang der politischen Parteien miteinander im letzten Halbjahrhundert in Ellwangen nach und nach zum Besseren verändert. In vielen Bereichen ist an die Stelle verletzender Konfrontation vernünftige Kooperation getreten. Meinungsverschiedenheiten werden meist in fairer Auseinandersetzung diskutiert und entschieden. Die SPD hat sich im nach wie vor konservativ geprägten Virngrund zwar nicht zu der »Volkspartei« entwickelt, die sie andernorts war; sie ist aber dank ihrer verlässlichen politischen Arbeit auch hier zu einem wichtigen Pfeiler des demokratisch strukturierten Gemeinwesens geworden – eine Tatsache, die in weiten Teilen der Bevölkerung gesehen und anerkannt wird. Und dies ist auch gut so.

In einer Zeit, in der viele als absolut gesichert angesehene demokratische Normen in Frage gestellt werden, in der politische Ideologien, von rechtsaußen, die als überwunden galten, unheilvolle Urständ feiern und der Weltfrieden Gefahren ausgesetzt ist wie lange nicht mehr, gilt es, diese gefährlichen Entwicklungen klar zu sehen und politisch alles zu tun, um ihnen wirksam zu begegnen. Unser Grundgesetz ist dazu ein verlässlicher Wegweiser. Jetzt gilt es, diese gefährlichen Entwicklungen klar zu sehen und politisch alles zu tun, um ihnen wirksam zu begegnen. 

Unsere demokratische Ordnung ist ein unschätzbares Gut, das täglich neu verteidigt und gestärkt werden muss. Unser Grundgesetz ist dazu ein verlässlicher Wegweiser. Wir Sozialdemokraten sind willens und bereit, uns dieser Aufgabe mit voller Kraft zu stellen. Mögen wir in den anderen demokratischen Parteien bei diesem Bemühen verlässliche Partner finden.