Erinnerungskultur

Veröffentlicht am 27.08.2021 in OV-Zeitung

Fragen eines 20-jährigen Genossen
an einen 90-jährigen Genossen

Nils Einfeld im Interview mit Dr. Alfred Geisel

Wie hat sich das Thema Erinnerungskultur im Laufe der Zeit verändert?

 

Es zählt zu den bitteren Erkenntnissen der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass nahezu zwei Jahrzehnte vergehen mussten, bis sich die deutsche Öffentlichkeit anschickte, sich offen und kritisch mit den Ursachen und den verheerenden Folgen der Nazi-Diktatur und den Verbrechen ihrer Täter und Helfershelfer zu beschäftigen. Obwohl die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse der Jahre 1946 – 1948 die unglaublichen Dimensionen dieser Verbrechen erahnen ließen, standen die weit verbreiteten Vorurteile einer vermeintlichen „Siegerjustiz“ und Not und Elend unserer Landsleute als Folge der totalen Niederlage des NS-Regimes einer solchen Auseinandersetzung hindernd im Wege. Begünstigt wurde dieses sträfliche Unterlassen durch die Tatsache, dass nach dem weitgehenden Fehlschlag der von den Siegermächten betriebenen sogenannten Entnazifizierung wichtige Schaltstellen in Verwaltung und Justiz der jungen Bundesrepublik mit Persönlichkeiten besetzt wurden,  die eng mit dem verbrecherischen NS-Regime verwoben waren. Beispielhaft sei nur an den von Konrad Adenauer berufenen langjährigen Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke erinnert, der als Verfasser und Kommentator der 1935 erlassenen Rassengesetze die Grundlage für die systematische Ermordung von 6 Millionen Juden aus Deutschland und weiten Teilen Europas schuf.

Es bedurfte des vielfach angefeindeten Bemühens einzelner von den Nazis verfolgten Persönlichkeiten und der Studentenbewegung Anfang der 69iger Jahre, dieser verhängnisvollen Politik der Verniedlichung, der Verdrängung, ja der Leugnung der NS-Verbrechen langsam ein Ende zu setzen.

Als leuchtendes Beispiel dieser Aufklärungsarbeit sei nur der langjährige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erwähnt, der, von Politik und Justizkreisen verfemt, die Grundlagen für den bahnbrechenden Auschwitz-Prozess und anderer Kriegsverbrecherverfahren schuf.

Nach Errichtung der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg ist es möglich geworden, wenigstens einen Teil der Verbrechensmaschinerie des NS-Regimes strafrechtlich aufzuarbeiten. Der allmähliche Aufbau nationaler und regionaler Gedenkstätten und die Erforschung von NS-Unrecht auf lokaler Ebene, weitgehend von bürgerschaftlichem Engagement getragen, war entscheidend, die Erinnerung an die vielen Opfer der NS-Zeit zu wecken.

In diesem Zusammenhang möchte ich die außerordentlich verdienstvolle Arbeit des Ellwanger Friedensforums lobend erwähnen, das durch mühevolle Recherchen die grausamen Ereignisse rund um den Hessentaler Todesmarsch im April 1945 in die Erinnerung zurückgerufen hat. Eine solche Erinnerungsarbeit zu erhalten und zu stärken, verdient auch in der Zukunft die Unterstützung von uns allen.

 

Wäre die Erinnerungskultur einfacher, wenn nach dem Ende des 3. Reichs konsequenter Schuldige verurteilt und Opfer entschädigt worden wären?

Es liegt auf der Hand, dass die bei der ersten Frage angedeuteten unverzeihlichen Versäumnisse nicht nur einer angemessenen Entschädigung der Opfer und einer gerechten Bestrafung der vielen willfährigen Täter und Helfershelfer im Wegen gestanden sind. Viele wichtige Beweismittel sind auf diese Weise verloren gegangen. Auch hätte die damit verbundene frühzeitigere Entwicklung einer Erinnerungskultur der Ausgestaltung der jungen Bundesrepublik als eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats sicherlich gut getan. Aus solchen Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, ist angesichts der verstärkt wabernden „Schlussstrichmentalität“ wichtiger denn je.

 

Aktuell ist es in der Querdenkerszene populär, sich selbst mit NS-Opfern zu vergleichen.
Gab es derart respektlose und unverhältnismäßige Vergleiche bereits in der Vergangenheit? 
Wie wurde damit umgegangen?

Die in dieser Frage angesprochene Tatsache kann nach meiner Ansicht nur als dreiste Unverschämtheit bewertet werden. Wenn Personen, die auf der einen Seite ein äußerst zwiespältiges, ja ablehnendes Verhältnis zu den wahren NS-Opfern haben – seien es nun Querdenker, Verschwörungstheoretiker, sogenannte Reichsbürger, AfD-Funktionäre oder Rechtsextremisten – sich andererseits aber mit diesen Opfern gleichzusetzen versuchen, ist dies Perfidie in Reinkultur. Sich dagegen mit aller Macht zur Wehr zu setzen, sollte für alle rechtschaffen  denkenden Bürgerinnen und Bürger eine Selbstverständlichkeit sein.

Wenn ich nach vergleichbaren Fällen gefragt werde, fallen mir zwei Beispiele aus der Politik ein. Der eine Fall betrifft den ehemaligen Bundesminister Theodor Oberländer, der als Mitglied des Bundes der Vertriebenen und Entrechteten (BHE) und späteres CDU-Mitglied in der Zeit von 1953 – 1960 dem Kabinett Adenauer angehörte und der sich gerne als angeblich NS-Verfolgter gerierte. In Wirklichkeit war er überzeugter Nationalsozialist und überdies als hoher Offizier der Wehrmacht in Massenerschießungen von Juden und Polen bei Lemberg involviert. Beim anderen Fall handelt es sich um den langjährigen Ministerpräsidenten unseres Bundeslandes Dr. Hans Filbinger. Er ließ es allzu gerne zu, sich als Widerstandskämpfer im 3. Reich bezeichnen zu lassen – unbeschadet der Tatsache, dass er als Marinerichter wenige Wochen vor Kriegsende zwei junge Deserteure zum Tode verurteilte und die Urteile kurz vor der Kapitulation am 8. Mai 1945 vollstrecken ließ.

Beide Politiker mussten unter dem Druck der Öffentlichkeit ihre Ämter aufgeben.

Mit Augenmerk auf die Stolpersteininitiative: Welche Rolle spielt Kunst bei der Erhaltung der Erinnerungskultur? 

Für mich persönlich steht außer Frage, dass Kunst in der Erinnerungskultur eine bedeutende Rolle zu spielen hat. Dies kann in vielfältiger Weise geschehen: Durch Errichtung eines Denk- oder Mahnmals, durch schriftstellerische Arbeiten, durch Filme oder Theaterstücke, durch Werke der bildenden Kunst oder durch Errichtung einer Statue. Ein Kunstwerk dieser Art kann zu nachhaltendem Denken anregen, kann Empathie wecken, kann Empfindungen und Gefühle zum Ausdruck bringen, die nur schwerlich verbalisiert werden können. Kunst kann ein probates Mittel gegen die Versuchung des Verdrängens, des Leugnens historischer Wahrheiten sein.

Dies gilt in besonderem Maße auch für die vom Künstler Günter Demnick ins Leben gerufene Stolpersteinverlegung. Die an authentischen Orten des Geschehens in den Boden eingelassenen Gedenktafeln sollen an das Schicksal von Menschen erinnern, die in der NS-Zeit verfolgt, deportiert, ermordet oder in den Selbstmord getrieben worden sind. Hier wird auf ganz besondere Art und Weise eine konkrete Beziehung zu einem Individuum hergestellt, das in bestialischer Weise aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen worden ist. Hier wird Geschichte personalifiziert, hier wird einem verstummten Zeitzeugen in der Erinnerung wieder ein Name gegeben.

Ich bin persönlich sehr dankbar, dass nach vielfältigen Bemühungen diese Form des Erinnerns auch in unserer Raumschaft Einzug gehalten hat. Die Stolpersteinverlegungen in Aalen, in Lauchheim und in Ellwangen sind nicht nur Ausdruck vorbildhaften bürgerschaftlichen Engagements, sondern auch ein ermutigendes Zeichen für die Zukunft. Mögen auch noch andere Orte – ich denke hier vor allem an die Raumschaft Bopfingen – diesen verdienstvollen Beispielen folgen.

 

Meine Generation ist vermutlich die Letzte, welche noch lebende Vorfahren hat, die das 3. Reich miterlebt haben.
Wird das "sich erinnern" in Zukunft schwieriger?  Was kann dagegen getan werden?

Seit der Zeit der Nazi-Diktatur sind zwischenzeitlich mehr als 75 Jahre vergangen. Die Zahl der Menschen, die die zwölf Jahre des NS-Regimes bewusst erlebt haben, wird immer kleiner und wird bald nur noch Legende sein. Damit wir auch einer der wichtigsten Pfeiler unserer Erinnerungskultur, der Zeitzeuge, der aus eigenem Erleben das damalige schreckliche Geschehen seiner Nachwelt weitergeben kann, der Vergangenheit angehören.

Nicht wenige unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger glauben deshalb, damit sei auch die Zeit gekommen, unter das Gedenken und Erinnern, unter die Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel unserer jüngeren Geschichte einen  Schlussstrich zu ziehen. 

Zugegeben: Eine gewissenhafte, eine glaubwürdige Erinnerungsarbeit wird in der Zukunft nicht einfacher, sondern schwieriger werden. In unserer Wohlstandsgesellschaft wird die Vermittlung eines nachhaltigen Erinnerns an die Verbrechen der Nazi-Zeit gerade auch in der jüngeren Generation oft auf Desinteresse und Gleichgültigkeit stoßen. Gerade deshalb wird sie aber notwendiger denn je werden. Nicht nur, weil unsere nationale Selbstachtung dies nachhaltig von uns fordert. Ein wahrer, richtig verstandener Patriotismus ist nur möglich, wenn wir uns unserer Verantwortung auch für die dunklen Kapitel unserer Geschichte bewusst bleiben und sie anerkennen. Deshalb muss all jenem, die aus Selbstgefälligkeit, nationalistischem Opportunismus, ja aus Feigheit diese Epoche deutscher Geschichte endgültig der Vergessenheit anheimfallen lassen wollen, aufrichtig und entschlossen gewehrt werden.

Geschichtliches Bewusstsein lässt sich nicht nach dem landläufigen Motto „Das Gute ins Töpfchen, das Schlechte ins Kröpfchen“ aufteilen. Ob wir es wollen oder nicht: Die Einzigartigkeit des systematischen Völkermords an den Juden und das Ausmaß der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in deutschem Namen begangen worden sind, sind und bleiben unser nationales Schicksal, sind Fakten, die man nicht wie ein schmutziges Hemd abstreifen kann. Die Erinnerung daran ist und bleibt eine Daueraufgabe. Sicherlich wird es angesichts des Zeitablaufs neuer Formen und Methoden der Geschichtsvermittlung geben müssen. Dies beginnt in den Schulen und setzt sich in allen Bereichen der politischen Bildung und unseres Handelns fort. Das Postulat des Gedenkens und Erinnerns an die Menschheitsverbrechen der NS-Diktatur muss die Grundlage für das permanente Bemühen von uns allen sein, zukünftig die unumstößlichen Rechte jedes Menschen und seiner Würde zu achten und zu wahren, wie uns dies in Artikel 1 unseres Grundgesetzes aufgetragen ist.